Vor kurzem bin ich 60 Jahre alt geworden. Das ist schon etwas Besonderes für mich gewesen und ich schaue gerne deshalb einmal zurück, wieso ich als Grafiker und Maler heute so bin, wie ich nun einmal geworden bin. Außerdem frage ich mich, was noch sein könnte in der relativ kurzen Zeit, die noch vor mir liegt.
Doch bevor ich zu meinem 60. Geburtstag Sprüche höre wie diesen:
Älter werden schließlich alle.
Doch eines gilt in jedem Falle.
Jeweils alle Lebenszeiten
haben ganz besondere Seiten.
Wer sie sinnvoll nutzt mit Schwung,
Der bleibt sicher 100 Jahre jung.
Habe ich mich entschlossen zu meinem Jubiläum selber ein paar Gedanken hier zusammenzufassen.
Lieber halte ich es wie der einstige Pardon Satiriker Robert Gernhardt in seinem ehrlichen Gespräch mit dem Schöpfer
»Schier sechzig Jahre auf deiner Welt –
bekomme ich jetzt Schmerzensgeld?«
»Mein Kind, mir geht dein Wunsch zu Herzen:
Geld hab ich keines. Doch kriegst du Schmerzen!«
Gernhardt auf die Frage, wie es denn so sei als 50-Jähriger: »Ich fühle mich überhaupt nicht so. Nicht als 50-Jähriger jedenfalls. Anders.«
»Jünger?«
»Ja, sicher.«
Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass man sich desto jünger fühlt, je älter man wird. Vom Burschi zum Bubi – und wenn dann schließlich Freund Hein – Gevatter Tod – seine Sanduhr schwingt, ruft man entgeistert: »Jetzt holen sie schon die Kinder!«
Gernhardt starb mit 68 an Krebs!
Nachdem ich mich vor Tagen gefragt habe was für eine aufrichtige Rede ich zu meinem Ehrentag halten soll, ohne allzu albern, schwülstig oder sentimental zu werden, hatte ich folgenden Traum:
Mit meiner Frau gehe ich durch einen dunklen Tunnel. Es ist uns hier unheimlich. Am Ende des Tunnels erblicke ich eine bekannte Gestalt. Zuerst denke ich, es ist mein Cousin. Doch die Gestalt trägt einen Vollbart. Sie verstellt uns den Ausgang zu einer lichten Öffnung. Die dunkle Gestalt fragt mich vorwurfsvoll, ob ich sie nicht wieder erkenne. Doch beim besten Willen fällt mir sein Name nicht mehr ein. Zuerst einmal wache ich schweißgebadet auf.
Als ich wieder einschlafe, bin ich mit meinem 60.Geburtstag beschäftigt. Mein Vater hat einen Bekannten, der ein potenzieller Kunstkäufer sein kann, eingeladen, damit die Feier nicht so bescheiden ausfällt. Aber ich kann mit dem großspurig auftretenden Bekannten nichts anfangen. Gekommen sind auch nicht meine Kunstkollegen, die sich um die Darmstädter Sezession und der Ausstellungsmacherin Ute Ritchel scharen. Sie passen auch mit ihrer absoluten „Zurück zur reinen Natur Ästhetik“ nicht wirklich zu mir.
Ihre Arbeiten wirken auf mich manchmal wie der zelebrierte Hase in der Vitrine in dem Bild „Beuys und der Hase“ von Leo Leonhard: gestelzt und künstlich am Leben gehalten. Zu seinem einstigen Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie schrieb Leonhard einmal: „Was hat Beuys nicht alles mit einem toten Hasen angestellt? Er hat ihm Bilder erklärt, einige seiner Organe auf einem Draht aufgefädelt, seine Körpertemperatur gemessen, ihn mittels Mullbinden auf Stelzen gestellt und ihm auf einem Konzertflügel, der mit Tonklumpen gefüttert war, seine sibirische Sinfonie vorgespielt. Beuys stellt einen toten Hasen auf Stelzen, verschafft ihm damit scheinbar einen noch größeren Überblick und einen weiter aufgreifenden Schritt, macht ihn aber tatsächlich mit dieser Maßnahme erst recht bewegungsunfähig und sperrt ihn in eine Vitrine wie in einen gläsernen Sarg, nachdem er ihm sein Herz entnommen hat, um es auf einen Draht zu stecken und scheinbar durch Stromimpulse wieder zum Schlagen zu bringen.“
Zurück zu meinem Traum: Kurz bevor die Geburtstagsgäste nach dem Essen im Restaurant wieder gehen wollen, möchte ich ihnen noch ein Bild von meinen letzten Arbeiten zur Erinnerung an meinen 60.Geburtstag schenken. Aber die Bilder, die ich ausgedruckt habe, sind mir zu blass und unbedeutend. Meine Frau sieht sich noch einmal meine Ausdrucke genauer an und entdeckt Ausdrucke von Leo Leonhard, der mit 72 Jahren gestorben ist. Jetzt weiß ich wer die Gestalt im dunklen Tunnel ist und an wen ich in meiner Rede zu meinem 60.Geburtstag erinnern will. An den Radierer, Zeichner und Maler Leo Leonhard, meinem persönlichen bevorzugten Lehrer, an den die aktuelle Kunstszene in Darmstadt keine Erinnerung mehr verschwenden will. Soweit der Traum!
Leo Leonhard als mein Vorbild und Ideengeber
Leo Leonhard, der Kinderbuchillustrator (Rüssel in Komikland), Radierer und Maler, starb mit 72 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt, als er im Garten noch etwas besorgen wollte. Damit ist er nur 12 Jahre älter als ich heute geworden. Das zeigt mir, wie kurz noch meine reale Lebenszeit sein könnte. Er verstand es wie kaum ein anderer Lehrer auf seine Schüler einzugehen und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen, ohne dabei überheblich und selbstgerecht zu wirken. Er ist mir ein Vorbild gewesen, den ich beinahe vergessen habe und von dem ich so viel, nicht nur in der Kunst, sondern auch im Umgang mit meinen Mitmenschen gelernt habe. Die Achtung anderer Kunstschaffenden und Mitmenschen war ihm besonders wichtig gewesen. Er hat ihnen zwar fachlich kritisch gegenüber gestanden, sie aber niemals persönlich beleidigt oder beschimpft. Denn er wusste, wie kurzlebig die Stilrichtungen in der Kunst sind und keiner sich deshalb als Meister über den anderen aufschwingen darf. In diesem Zusammenhang soll auch nicht verschwiegen werden, dass er die digitale Fotobearbeitung, die mein Medium ist, in dem Bild „Der Maskenbildner“ mit dem unpersönlichen, verpixelten Spiegelportrait aufs Korn nahm.
Er verehrte zwar die Meister der Renaissance und des Naturalismus im 19. Jahrhundert, aber er achtete auch die Meister des 20. Jahrhunderts. Für ihn war Kunst nicht in den Kategorien Top oder Flop, Like oder Unlike, Schwarz oder Weiß zu fassen. Kunst mit seinen Zwischentönen sollte immer eine Aufforderung zum Dialog mit dem Betrachter und den verschiedenen Stilrichtungen einladen. Dabei wollte Leonhard erst einmal den Standpunkt des anderen einnehmen, bevor er diesen hinterfragte. Deshalb gibt es in Leonhards Werk so viele Zitate von anderen Künstlern und stilistische Brüche, die eine Festlegung auf einen persönlichen Stil unmöglich machen.
Unerwartetes Wiedersehen
Als ich ihn das letzte Mal in einer Galerie für zeitgenössischen Kunst traf, sagte ich ihm beinahe provokativ, ich wolle die hier ausgestellten Arbeiten nicht gleich kritisieren, sondern erst auf mich einwirken lassen. Ich sagte ihm das, weil er mir als kritischer Unruhegeist der zeitgenössischen Kunst in Erinnerung geblieben ist. Statt mir zu widersprechen, antwortete er: ihm ginge es genauso.
Tatsächlich hatte ich gerade diese Eigenschaft von ihm während meiner Schulzeit als sein Schüler gelernt und verinnerlicht. Er lehnte Kunst ab, die nur belehrend und ausschließend ist.
Kunst wie in „Die Entarteten“, vor der der Betrachter ehrenhaft salutieren und verstummen soll, ist ihm ein Gräuel. Das gilt sowohl für die nationalsozialistische Blut- und Bodenpropaganda, als auch für die sozialistische Arbeiter- und Bauernverherrlichung. Die Ironie der Kunstgeschichte ist, dass schließlich die unerbittlichen Zensierer des 20. Jahrhunderts selbst dafür sorgten, dass die verbannte Kunst nach ihrer Entmachtung zum höchsten, unumstößlichen Kulturgut in unserer Zeit erhoben wurde.
Leo Leonhard bevorzugte eher die soziale Anteilnahme wie in dem zur Zeit aktuellem Thema „Auf der Flucht“ oder den kritischen, distanzierten Blick wie im Ballermann-Ensemble „Strandbild“
als die krampfhafte Suche nach Individualität und Originalität, wie Leonhard es im „Das Atelierfenster“ ironisch ausdrückte.
Leo Leonhards Auseinandersetzung mit dem Tod
Bei meiner Auseinandersetzung mit Leo Leonhard erkenne ich vor allem seine aufrichtige, mit sich selbst ringende Konfrontation mit dem unausweichlichen eigenen Ende an. Wie es Leo Leonhard in zwei seiner letzten Arbeiten so anschaulich dargestellt hat, ist es im Angesicht des Todes unbedeutend, ob er ein abstrakter Expressionist oder ein gegenständlicher Naturalist gewesen ist.
Entscheidend für ihn war es immer wie im Bild „Jakobs Kampf mit dem Engel“ im Kampf mit sich selbst den richtigen Ausdruck mit Inhalten zu finden.
Im Bild „Der stürzende Ikarus“ nahm Leonhard seinen Tod vorweg. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens musste er seine Arbeit ungewollt beenden, egal welche Arbeit er gerade vollendet oder begonnen hat. Der Rest ist grenzenloses, lichtes Schweigen wie in „Das Meer der Stille“, dem ein Künstler sich nur plakativ annähern kann.
Schlussbetrachtung
Fragt ein Kunstexperte irritiert:“Dieses Bild passt doch gar nicht in die Ausstellung für abstrakte Kunst? Die Landschaft wirkt ja ganz natürlich.“ Antwortet ihm Leonhard dreist:“Stimmt, deshalb ist es ja auch kein Bild, sondern ein Fenster!“ Bei aller abstrakter Spielerei hat Leonhard nie den Blick für die Wirklichkeit verloren und beides in seinen Arbeiten integriert. Diese universelle Einstellung, die in meinem Leben seit meiner gymnasialen Schulzeit eingezogen und verinnerlicht ist, verdanke ich meinem einstigen Kunstlehrer Leo Leonhard.
An dieser Stelle will ich auch meiner Frau danken, dass ich meine Arbeit durch die kritische liebevolle Auseinandersetzung in der Kunst und im Leben mit ihr nie überbewertet habe und am Ball geblieben bin. Meinem Vater will ich dafür danken, dass ich nicht aus finanziellem Druck meine Überzeugungen verraten musste. Und schließlich will ich all denen danken, die mir geholfen haben an meinen Weg zu glauben.
Email an Klaus- H. Schader