Surreale Zeichen und Zugangs-Code

Der KI-Künstler Refik Anadol setzt seine virtuelle Videoinstallation aus Millionen von Daten und Bildern, die er unter anderem mit Google gesammelt hat, zusammen.

Paul Gecko will in den Bergen wandern gehen. Doch die Pfade sind enger geworden. Viele Zäune und Markierungen verhindern einen unbeschwerten Aufstieg zum Gipfel. Einen Gipfel, den er früher locker erreicht hat. Die surrealen Zeichen am Rande des Weges sehen für ihn vor allem mysteriös aus. Sie ärgern ihn und führen ihn von seinem Ziel weit weg. Letztendlich sind sie nur für die Einheimischen nachvollziehbar. Deshalb kommen die Einheimischen auch locker den Berg hinauf und wieder herunter. Paul ist nur ein unwillkommener Gast in diesem surrealen Gebiet, das für ihn unwirtlich geworden ist.

Soziale Ausgrenzung durch sektiererische Verhaltensweisen

Hingegen in der Gemeinschaft überlebt der eingeweihte Einheimische besser. Zusammen können sie etwas erreichen, das Paul Gecko als einzelner in dieser unwirtlichen Welt niemals erreichen würde. Deshalb bietet die Gemeinschaft Kontinuität und Verlässlichkeit dem Einzelgänger Paul in dieser Welt an. Eine Welt, die mehr und mehr Paul, mit einer Flut von Daten und Bildern überschwemmt, die er mit seinem Verstand kaum noch begreifen kann. Die alten bekannten Parameter feste Arbeitsstätten, Großfamilie und Freundeskreise sind aufgelöst und bieten keinen Halt mehr. Infolgedessen treibt Paul wie ein hoffnungsloses Treibgut in den sich aufbäumenden Wogen der Daten dahin. Letztendlich wer immer diese wogende Maschine beherrscht, der entscheidet auch über das Auf und Ab von Paul.

Allerdings gibt es in der sicheren Kommune auch Wortführerinnen, Politikerinnen, Expertinnen, Journalistinnen oder auch Comedians, denen die einfachen Menschen sich gedankenlos anvertrauen und unterordnen. Wer ausbricht und die Regeln der alles bestimmenden Gruppe missachtet, wird schnell von den anderen verachtet oder ausgegrenzt.

Tribunale gestern und heute

Früher war die Ausgegrenzte eine Ketzerin und Gotteslästerin, heute ist er/sie eine Wissensleugnerin. Anderes zu denken und danach zu handeln war damals Todsünde, heute ist es ein No-Go. In der Folge herrscht ein Klima der Angst und der Bevormundung. Kaum eine/r wagt es auszubrechen und wenn doch, dann wird eine „Firewall“ des Schweigens von den anderen über ihn errichtet.

Um eine Ausgegrenzte zu erkennen, hat früher ein Inquisitionstribunal in der Kirche folgende einfache Frage gestellt: Glaubst du an Gott, so wie es in der Bibel steht und schwörst du dem Teufel ab? Wenn daraufhin die Antwort war: Ich halte die Bibel für eine Verschwörung und ich glaube an die Wissenschaft! Dann wurdest du geteert, gefoltert und anschließend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute kommst du für diese Aussage ins Fernsehen und wirst als Expertin angesehen. Dagegen werden diejenigen diffamiert, gemobbt und gefeuert, die an etwas glauben, aber vorgeben nichts Genaues zu wissen.

Wohlverdienter Schlaf

Die bedrohliche, ausgrenzende Stimmung wird besonders offensichtlich, als Paul Gecko in der Kommune im gemeinsamen Schlafsaal sich zur Ruhe begeben will. Alle Anwesenden möchten gerne in den wohlverdienten Schlaf sinken. Dennoch ist immer einer da, der mit seinen rastlosen, neugierigen Nachfragen die anderen um den wohltuenden, sanften Schlaf bringen wird. In der Folge soll von der Wortführerin verordnete totale Ruhe gelten, wenn Schlafenszeit ist. Mucks Mäuschen Stille hat zu herrschen. Wenn eine/r dennoch mit seinem Geklapper nicht aufhören will, können die anderen nicht einschlafen. Daraufhin schallt ein lautes Pssst durch den Raum, bis wieder Ruhe in der Gemeinschaft herrscht!

Flucht

Vorsichtig versucht Paul Gecko sich abzusondern von diesem diktatorischen Zeitgeist. Auf Zehenspitzen verlässt er den Raum. Plötzlich zieht ein heftiger Wind auf, als er die Tür hinter sich zu ziehen will. Panik beschleicht ihn, die anderen könnten aufwachen und seine Flucht bemerken. Er kann die Tür nicht im Rahmen schließen. Entnervt gibt er auf. Stattdessen baut er eine „Workstation“ in den Türrahmen zwischen sich und den anderen ein. Nur mit einem Code können die anderen wieder heraus und Paul hineinkommen. Einen Code wie „Sesam öffne dich“. Doch den Zugangs-Code kennt kaum einer. Darüber muss er unfreiwillig lachen und wacht auf.

Was ist der Code, der wieder zueinander führt

Ein Klarträumer wie Paul es ist, würde sagen, es findet alles in seinem Kopf statt. Für die Gemeinschaft bedeutet es, mehr Ungewissheiten zuzulassen und sich nicht dem Diktat einiger Wortführer zu unterwerfen. Trotzdem „Make Science great again“, das heißt Wissenschaft muss Widersprüche aushalten können, um zum besten wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen.

Im Reich des Bösen

Im darauffolgenden Traum reist Paul Gecko mit vielen Friedens-Aktivisten ins Reich des Bösen. Es ist eine Fahrt ins Ungewisse. Sie wissen nicht genau, wie die Milizen des bösen Diktators sie empfangen werden. Je näher sie ins Zentrum des Übeltäters gelangen, umso mehr fürchten sie entdeckt zu werden. Sie fragen sich, was der Satan in Person, der für viele Tode, vergewaltigte und misshandelte Frauen und Kinder verantwortlich ist, dann mit ihnen anstellen wird. Ungeachtet dessen ist der Nachweis der Verbrechen und Misshandlungen im Großen und Ganzen noch ungewiss. Etwas mulmig wird es ihm, als er mit den anderen Mitreisenden in das Vorzimmer des blutrünstigen Diktators vordringt. Obwohl viele Wachleute und Geheimdienstler anwesend sind, nehmen sie von ihnen keine Kenntnis.

Wie die Lemminge in den Freitod gehen

Das gefällt einigen Friedens-Aktivisten nicht. Aus Protest wollen sie ins Wasser gehen. Demzufolge hüllen sie sich in weiße Gewänder und protestieren hiermit gegen die Menschenrechtsverletzungen des unbarmherzigen Diktators. Weiße Gewänder deshalb, weil sie sich zu den Guten und Reinen zählen. Wie die Lemminge wollen sie sich langsam durch Enthaltsamkeit und Konsumverzicht ins tiefe Wasser begeben, um ein Zeichen zu setzen. Als ihnen das Wasser bis zum Halse steht und der Diktator noch immer nicht beeindruckt ist, riskieren sie den physischen Freitod.

Auch wenn Paul Gecko die Gräueltaten des Diktators verurteilt, ist für ihn die Selbstaufopferung dann doch zu viel des übertriebenen Pathos. Schließlich, findet er, ist das Wasser nicht für den heroischen Massen-Selbstmord, sondern zum Schwimmen, Schweben und Tanzen da.